Abschied von der Perfektion.

Jede junge Familie strebt danach ihren Kindern ein glückliches und perfektes Zuhause zu bieten. In Zeiten materiellen Wohlstands wird dem Kind jeder Wunsch von den Augen abgelesen. Gut so. Bis zu einem gewissen Alter sollte man sie einfach verwöhnen. Mit allem, was einem wichtig erscheint, vor allem aber mit Zeit und Liebe.

Richard ist heute seit acht Monaten tot. Wie oft hören wir den Satz: es ist doch noch nicht viel Zeit vergangen. Ich möchte dann immer fragen: was ist denn in euren Augen viel Zeit und was soll dann anders sein? Bleibt ein Kind nicht ein Kind? Tot oder lebendig?

Richard verstarb im Alter von nur 22 Monaten. Am Anfang unserer Zeit als Familie. Verständlicherweise ist man umgeben von jungen Familien und Müttern. Was sind Themen, die Eltern von jungen Kindern bewegen? Was bewegte mich vor Richards Tod? War es die Furcht vor einer Lawine von Kita-Krankheiten? War es das schier endlose Bedürfnis das Kind glücklich zu machen? War es der Wunsch der Welt zu sagen: schau her, das kann er alles schon? Vermutlich ja.

Prägend war vor allem das Gefühl von Stolz. Bei Richard unendlicher Stolz, der noch von Erziehern, Fremden, Kinderarzt und anderen genährt wurde. Ein so fröhliches und glückliches Kind. Ein so aufgewecktes, energetisches und offenes Kind. Ein so schlaues und kognitiv waches Kind. Ein so... Ja, der Stolz wurde jeden Tag mehr. Nicht nur durch eigene Erlebnisse, sondern auch durch Beobachtungen und Aussagen von außen. Wie ist es jetzt?

Jetzt weht mir der Stolz anderer entgegen. Teilweise als leichte Prise, aber manches Mal auch unbeabsichtigt als Orkan. Direkt, unvermittelt, plötzlich und unreflektiert. Ist es schon soweit? Haben alle Richards Verlust schon verstanden, akzeptiert, verarbeitet und abgeschlossen? Sehen sie mich nur noch als Mutter von Louisa? Als Mutter eines 7,5 Monate alten Mädchens? Glauben sie, dass ich mich am Tag mit Fragen der Ernährung, der Windeln oder anderer oft in dem Alter im Vordergrund stehenden Themen beschäftige? Glauben sie, dass wir abends gemütlich vor dem TV sitzen oder uns das Royal Wedding interessiert? Glauben sie, dass ich ohne Schmerz Fotos ihres Familienglücks anschauen kann? Wie würden sie sich fühlen? Was erwarten sie von mir? Wie soll ich darauf reagieren? Wann wären sie bereit für die Konfrontation? Ich fürchte die Antwort lautet nie, denn die Sehnsucht ist allgegenwärtig und das bildhafte Verpassen dessen, was er erleben sollte, ist überall. Dabei erinnert kein Kind an ihn. Niemand. Aber sie sind dort, wo er sein sollte. Sie haben ein Laufrad, sie können rutschen, sie spielen im Sandkasten, sie laufen unbeschwert durch die Welt. Sie….

Ich nehme Abschied von der perfekten Welt. Perfekt war unser Leben mit ihm. Unendlich perfekt. Leise ist es geworden. Die Stimmen zu Richard sind verstummt. Sie sind beschäftigt mit ihrem eigenen Stolz. Sie sind versunken in eigenen Themen. Die Realität, seine Realität, seine augenscheinliche Abwesenheit ist Teil ihres Lebens geworden. Wir sind von außen drei und doch sind wir drei immer vier. Die Vergangenheit ist in Vergessenheit geraten. Richards Anekdoten verzaubern uns Eltern nach wie vor. Die Erinnerungen zaubern ein Lächeln ins Gesicht. Manchmal auch eine Träne, aber vor allem ein Lächeln. Lebendige Erinnerungen. Nur noch für uns auszuhalten und mit einem „ja, so war er“ zu kommentieren? Nur wenige…

Alle sind angekommen im Hier und Jetzt. Das Heute und das Morgen sind wichtig. Die Vergangenheit ist vergangen. Und immer wieder der Satz: es ist doch noch nicht lange her. Ja, es ist eine Floskel und zwar eine unbedachte. Es ist ein Wunsch einen Trost für sich zu finden, dass es einen Abschluss in der Trauer für uns gibt. Warum sollen wir in der Trauer einen Abschluss finden, wenn alle Welt akzeptiert, dass Liebe ein unendliches Gefühl ist?

Wir empfinden Liebe für ihn. Jede Sekunde des Tages und der Nacht. Wir fragen uns, wie es ihm geht? Wo er ist? Ob er ist? Ob er von oben den Garten bewundert, der uns vor seinem Tod in die neue Wohnung ziehen ließ? Ob er seine Schwester nachts besucht und ihr Flauseln ins Ohr flüstert? Ob er uns die Ente, den Schmetterling und das Rehkitz zum Gruß geschickt hat, als wir wieder einmal der Verzweiflung nahe an seinem Grab standen? Ob er...?

Unterscheiden sich diese Gedanken von meinen Gedanken zu Louisa? Inhaltlich ja, aber nicht in der fortwährenden Intensität und Frequenz mütterlicher Liebe. Ob sie ihren Bruder schon wahrnimmt auf den vielen Fotos? Ob sie das Lächeln von ihm hat? Ob sie ihn vermisst? Ob sie spürt, dass wir nie wieder eine perfekte Familie sein werden? Ob sie weiß, dass wir jeden Tag die Ambivalenz des Lebens aushalten: 7,5 Monate alt, 8 Monate tot? Ob sie…?

Vielleicht denken sie, wenn sie uns mit Louisa lachen sehen, dass er vergessen ist. Dass wir auch im Hier und Jetzt sind. Wir lachen mit ihr. Sie ist wie er ein kleiner Sonnenschein. Sie ist ein waches, keckes, aufgewecktes und fröhliches Kind. Wie er geht sie ohne Murren ins Bett. Aber sie ist sie und er ist er. Sie gibt uns Kraft weiterzumachen. Sie überrascht uns mit Verhaltensweisen, die er hatte. Sie sind Geschwister, eine Bund fürs Leben. Die Sehnsucht wird mit jedem Tag nicht weniger, sondern größer. Inzwischen hilft Ihre Lebensfreude uns die ins unendlich wachsende Sehnsucht auszuhalten.

Also versuchen wir jeden Tag anzunehmen. Auszuhalten, dass morgens niemand Mama, Mama ruft. Auszuhalten, dass niemand in der Küche zum Radio tanzt und uns zum Mitmachen auffordert. Auszuhalten, dass im Garten kein Bobby Car fährt und kein wahnsinniges Lachen in Ohren schallt. Auszuhalten, dass niemand stört, wenn man duscht oder auf Toilette geht. Auszuhalten, dass all das mit ihm nie wiederkommt. Auszuhalten, dass…

Durch Louisa und die wunderbarsten aller Erinnerungen an eine perfekte Zeit können wir aushalten. Jeden Tag aufs Neue. Und ermahnen uns: mit jedem Tag der kommt einen Schritt näher an ihn heran zu rücken. Und bis dahin bleibt er in Bildern, in Worten, in Gedanken ein fester Bestandteil unserer irdischen Familie. Bis wir uns wiedersehen - in der Ewigkeit.

Ich verabschiede mich von der perfekten Welt. Von dem Gefühl je wieder vollständig zu sein. Von dem Anspruch an mich selbst alles perfekt zu machen. Von gesellschaftlichen Konventionen und Erwartungen an Mütter, an Töchter und an Frauen. Ich verabschiede mich von den Erwartungen, die an mich gestellt werden, weil ich aussehe wie eine junge Mutter mit einem Kind.

Ich folge fortan nur noch meinem Instinkt, der mich sicher lenkt - jenseits von Empfehlungen, Richtlinien und Büchern. Und sage unserem kleinen Mann danke. Danke dafür, dass Du so unendlich perfekt bist. Dass du unser Leben für immer bereichert hast. Dass wir perfekte, endlose, bedingungslose Liebe kennenlernen durften. Dass du uns zeigst, dass es so wichtigeres gibt als die Details des Alltags. Dass du uns zeigst, dass es so Vieles mehr gibt als das Sichtbare.

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