Es ist wie es ist, was du draus machst.

Trauerlektion 1: Atmen, annehmen, akzeptieren

Seit 17 Monaten begleitet uns die Trauer um unseren Sohn, der plötzlich und vollkommen unerwartet durch einen sehr seltenen und schweren Krankheitsverlauf aus dem Leben gerissen wurde. Es sind unterschiedlichste Gefühle und Einsichten, die ich seither durchlaufe. Niemals hätte ich mir vorher vorstellen können, wie umfassend die Trauer um das eigene Kind ist und welche komplexen Prozesse man durchlebt, in der eigenen Familie, Partnerschaft und auch dem nahen und fernen Umfeld. Für mich hätte Trauer einfach Schmerz, Weinen und Stillstand bedeutet.

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Die Verarbeitung des Todes eines engen Angehörigen, des eigenen Kindes besteht für mich in einer Vielzahl von Herausforderungen, die man auf seinem Weg in ein neues Leben mit Verlust gestellt bekommt. Es sind nicht gewollte Herausforderungen, die sich wie Lektionen, wie Bestrafungen zunächst anfühlen und viel Kraft kosten.

Ich habe mich zu Beginn gegen die Trauer gewehrt. Ich wollte nicht wahrhaben, dass unser Sohn einfach über Nacht innerhalb von nur 6 Stunden nach Auftreten erster Krankheitssymtome, verstorben war. Ich wollte nicht hören, dass niemandem Schuld gegeben werden konnte. Ich wollte nicht hinnehmen, dass unerkannt geblieben war, dass trotz bester und mehr als notwendiger Schwangerschaftsvorsorge im Rahmen einer Kinderwunschbehandlung übersehen worden war, dass ihm ein Organ (Milz) fehlte. Ich wollte nicht akzeptieren, dass man von Organscreening redet, aber nur die „einsehbaren“ Organe geschallt werden - zu denen die Milz nicht gehört. Ich wollte nicht hören, dass hätten wir es gewusst, wir vielleicht hätten handeln können und bei jeder Art von nur leichtem Fieber ins Krankenhaus hätten fahren müssen. Ich wollte nicht begreifen, dass er schon ein paar wenige Mal krank gewesen war und es einfach keinen Unterschied bis zu einem Zeitpunkt x im Verlauf gegeben hatte. Ich wollte nicht hinnehmen, dass er zwei Wochen vor der Geburt seiner kleinen Schwester verstarb. Ich wollte die Bilder nicht zulassen, die in meinem Kopf geisterten – von ihm fröhlich winkend beim Abendbrot und morgens mit Tubus im Mund tot in diesem riesen Krankenhausbett. Nein. Ich wollte nicht glauben, dass das passiert war. Mein ganzer Körper wehrte sich. Fing auch an sich gegen das Kind in mir – hochschwanger in der 38. Schwangerschaftswoche – zu wehren. Alles was ich wollte war es zu leugnen. Ein Leben ohne ihn – nein, dass war nicht auszudenken, zu akzeptieren. Ich rebellierte innerlich – Tag und Nacht.

Die Rebellion brachte Wut mit sich. Wut auf mich selbst, auf die Umwelt, auf die Natur – auf alles. Warum durfte alles weitergehen, aber sein Weg nicht mehr? Warum hatte man es nicht gewusst, mich niemand gewarnt? Warum er? Schnell merkte ich, dass dieses ganze Warum zu nichts führt. Ich drehte mich im Kreis. Es war erschöpfend. Die Wut gab mir Antrieb, aber der verbundene Aktionismus war auch erschöpfend. Und diese inwärts gerichteten Gedanken machten mich taub für die Wahrnehmung um mich herum, für die Auseinandersetzung mit den vielleicht noch heftigeren Gefühlen der Sehnsucht.

Eine Freundin berichtete mir von einer verwaisten Mutter, die ihren Sohn ebenfalls vollkommen plötzlich im Alter von 4 Jahren verloren hatte. Von einer Minute auf die andere durch eine Herzmuskelentzündung, die einen Herzstillstand verursacht hatte. Dieses Erlebnis – so anders es auch von unserem ist – so war es auch verbunden mit vielen traumatischen Bildern des Miterlebens, des Zermatterns nach dem Warum, das wohl jede Mutter und jeden Vater begleitet, die ihr Kind zu Grabe trägt. Des ständigen Überlegens wann man was hätte anders machen können, um das Unmögliche ungeschehen zu machen. Ich las Bücher mit Erfahrungsberichten anderer verwaister Eltern, die ihre Kinder durch Unfall, Krankheit, Behinderung oder Gewaltverbrechen verloren hatten. Fand Unterschiede und Parallelen, die mein Gedankenkarussell stoppten oder weiter inspirierten.

Meine Gedanken kreisten die ersten Tage Tag und Nacht um die Frage: wo, wo hast du es übersehen? Und immer wieder Wut, viel Wut. Es war erschöpfend. Mental und physisch auch durch den Schlafentzug, den die Gedanken mit sich brachten - unfassbar erschöpfend. Ich suchte Halt in der Auseinandersetzung mit den medizinischen Komponenten seines Todes. Fand Bestätigung in dem Wissen, dass die Reanimation durch mich gut verlaufen war, aber zu dem Zeitpunkt seine Organe bereits irreversibel angegriffen waren, weil die Sauerstoffversorgung durch den Zusammenbruch des Gerinnungssystems bereits eine ganze Zeit zuvor während ich ihn nachts im Schlaf geglaubt hatte, stagniert hatte bevor es zum Kreislaufzusammenbruch gekommen war. Fand Rückhalt bei den Ärzten, die versicherten, dass auch sie solch einen rasanten und aggressiven Verlauf nur einmal in 20 Berufsjahren erlebt hatten, nur einen Fall von angeborenem Fehlen der Milz gesehen hatten, dass auch sie zu Beginn bei Fieber und Erbrechen nicht erahnt hätten, was passieren würde. Schicksalshaft letal - so nannten sie es. Sie es ebenfalls für einen Infekt gehalten und zum Abwarten geraten hätten. Und dennoch – das Mutterherz kreiste und kreiste um die Wörter Schuld, Verantwortung, Versagen.

Es war die Aussage einer anderen verwaisten Mutter, die mir schlagartig half. Ihr Mantra, wie sie es nannte. Sie sagte sich: Es ist wie es ist, es ist geschehen. Er ist tot. Es mag so trivial auf den ersten Blick erscheinen, aber diese Aussage ist heilend. Es ist wie es ist, es ist geschehen. Alles Zermattern, alles durchdenken bringt nichts. Es ändert nichts, aber auch gar nichts an der Tatsache, dass es geschehen war, er gestorben ist. Nichts kann ihn wiederbringen.

Immer, wenn meine Gedankenschleifen kamen begann ich dieses Mantra laut auszusprechen. Es ist, wie es ist, es ist geschehen. Je öfter ich es mir sagte, umso kürzer wurden die Gedankenschleifen bis ich zu dem Ergebnis kam: es bringt nichts – ich kann mich hier und jetzt für aufgeben entscheiden und mich weiter selbst erschöpfen in quälenden und nicht zu beantwortenden Schicksalsfragen oder annehmen, akzeptieren. Ja, es ist wie es ist. Es ist geschehen.

Und als ich annahm kehrte Ruhe in mich ein und ich war bereit für andere Gefühle, die mich nun in der Trauer begleiten sollten und die ich zuvor nicht spüren konnte, weil ich so in meinen quälenden Selbstzweifeln gefangen war.

Jeder, der ein Kind verliert, durch Krankheit, durch Unfall, durch ein Verbrechen oder als stille Geburt wird quälende Selbstzweifel haben. Einfach, weil man sich als Eltern verantwortlich fühlt, beschützen will, behüten will und in ständiger Bereitschaft ist für das Wohl des Kindes zu sorgen. Und doch muss man akzeptieren und hinnehmen, dass man nicht alles in der Hand hat.

Vielleicht hat man auch das Bedürfnis sich selbst zu bestrafen durch die Selbstzweifel, denn es ist so quälend zu akzeptieren, dass man da ist und das geliebte Kind nicht. Es ist falsch, die falsche Reihenfolge.

Vielleicht will man auch nicht sich, sondern jemanden anderes verantwortlich machen. Oft sind es die Ärzte, denen verwaiste Eltern die Schuld geben. Aber ist das richtig? Jeder Arzt handelt in seinem besten Wissen und Gewissen - kann man da Vorwürfe machen?

Und wenn man sich oder anderen Vorwürfe macht, kommt man damit wirklich weiter?

Ich denke es hält nur auf, es verzögert nur die Trauer und die Auseinandersetzung mit den eigentlichen Gefühlen der Trauer, der eigentlichen Sehnsucht. Sich rausholen aus dieser negativ Spirale kann nur jeder selber.

Es ist, wie es ist, was du daraus machst. Dieses Mantra begleitet mich bis heute.

 

 

 

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