Auf der Jagd nach Zeitersparnis

Ich habe ein schlechtes Gewissen. Und es wird von Stunde zu Stunde schlechter. Wann immer ich abends das Licht lösche, meist deutlich später als geplant, habe ich wieder zu viel von dem nicht getan, was ich mir eigentlich vorgenommen hatte.

Auf Whats app warten offene Chats darauf beantwortet zu werden. Ich tue das gerne, freue mich über den regen Austausch und denke mir doch manches Mal: Mist, du hast doch anrufen wollen, dir konzentriert Zeit nehmen wollen statt eine Nachricht zu tippen. (Sorry an all meine Lieben!)

Unter “Einstellungen” -->”Bildschirmzeit”  findet ihr eine Übersicht über die Zeit, die ihr am IPhone seid sowie wo ihr die meiste Zeit verbringt. Hier sieht meine Zeit ja ganz moderat aus - es gibt auch andere Tage…

Unter “Einstellungen” -->”Bildschirmzeit” findet ihr eine Übersicht über die Zeit, die ihr am IPhone seid sowie wo ihr die meiste Zeit verbringt. Hier sieht meine Zeit ja ganz moderat aus - es gibt auch andere Tage…


Nach Richards Tod hatte ich lange keinen Nerv für die Sozialen Netzwerke, Fernsehen oder gar Radio. Es erschien mir alles so trivial, so unnütz und zeitverschwendend. Panik bekam ich allein bei dem Gedanken. Wenn ich daran dachte, wie ich davor Serien liebte, stieg ein schlechtes Gewissen in mir empor. Wie konntest du nur? Ein Jahr lang blieb es so. Um mich abzulenken oder zu konzentrieren lernte ich wieder zu lesen, ein gutes Buch zur Hand zu nehmen. Fühlte mich nach dem Gelesenen bereichert, erweitert und beruhigt. Fand sanft in den Schlaf - ganz ohne schlechtes Gewissen.

Ich ertappe mich jetzt dabei, wie ich mich nun wieder vor dem Einschlafen in den Emotions- Trubel der sozialen Medien stürze. Ich habe bei Instagram Fotos geliked oder gähnend weitergewischt, meinen Facebook Account gecheckt und mich über den ein oder anderen Post mal wieder viel mehr aufgeregt als ich mich über die Positiven gefreut habe. Ich werde unruhig in Anbetracht der wenigen Likes und doch sichtbaren Reichweite meiner Artikel. Gehe mit quälenden Fragen ins Bett.

Im Bett liegend denke ich mir: du verfällst in alte Muster statt dir deine Rückzugsorte zu erhalten. Geistige und physische Orte, die ich erst in der Trauer richtig kennenlernte. Meine ganz persönlichen Momente, an denen ich in mich gehe und einfach bin. Frei von Erwartungen an mich oder andere, wo ich mit mir bin, mich neu kennenlerne. Mein Jetzt ohne ihn an der Hand, aber mit ihm im Herzen. Wo ich verwerten kann, was gestern, heute oder morgen geschehen wird. Wo ich mich rückbesinne auf das, was mir wichtig ist und nicht dem Anerzogenen durch Gesellschaft, Familie oder soziale Netzwerke. Das kann schon mal dauern – manchmal Tage. In den ersten Monaten der Trauer ermahnte mich mein Körper diese Orte aufzusuchen. Die Trauer war physisch – ich habe den Alltag, die Normalität des Lebens um mich herum nicht ausgehalten. Es hat mich kontinuierlich in Panik versetzt.

Inzwischen halte ich Supermärkte, Straßen, Spielplätze und Cafés & Co. wieder gut aus, sehne mich nach Normalität. Kann mich erfreuen und beteiligen. Und doch spüre ich, wie alles mich manches mal wieder überrollt. Ich bin jetzt anders – es gehört zu mir. Sensibler, verletzlicher, offenherziger, wohlwollender, mitfühlender, anders sehender – alles kommt näher an mich heran, im Guten wie im Schlechten.

Und ich spüre wie ich mich wieder treiben lasse von der Hetze des Lebens mit beschleunigten Technologien wie dem Iphone, immer erreichbar, immer sichtbar, immer unter Zugzwang. Der letzte Griff abends, der erste Griff morgens – aber der erste und letzte Gedanken sind bei ihm. Was ein anstrengender Kontrast. Ich vermute jeder hat seine Kontraste.

Ich habe wieder anstrengendes Gefühlshoping durch die Welt da draußen betrieben, statt mir friedliche Seelenzeit zu nehmen. Seelenzeit – was bedeutet das für euch? Wo findet ihr sie?

Alles bewegt sich schneller als früher, Flugzeuge, Schiffe, Autos – selbst unsere Tochter lernte bereits mit 9 Monaten laufen. Den Cafe trinken wir  to go, das Food ist Fast und auch unsere Beauty Produkte als All-in one Solutions sparen uns Zeit. Was macht ihr mit all der gewonnenen Zeit?

Ich schreibe 30 Chatnachrichten statt zweier Briefe, ich treffe 600 Leute auf Facebook statt vier auf ein Vino. Wir erleben eine Beschleunigungswelle mit nie dagewesener Geschwindigkeit. Menschen haben Angst den Anschluss zu verlieren und wollen alle sich bietenden Möglichkeiten des Austausches wahrnehmen. Nicht eins nach dem anderen, sondern parallel. Fehlt die Tiefe sehnt man sich nach Reichweite. Wie haben das bloß unsere Eltern alles gemacht?

Computerprogramme auf der Arbeit werden immer schneller. Wo früher eine Präsentation mal eben schnell mit der Hand erweitert wurde, werden heute Slides zur optischen Optimierung nach Indien geschickt. Deadlines gibt es nicht mehr – eigentlich muss alles sofort sein, von heute auf morgen, weil alle auf der Hast sind, kopflos. Und so führt die Zeitersparnis durch den technischen Fortschritt zur beständigen Zeitnot. Und am Ende des Tages gehen wir als Schuldige oder Gejagte ins Bett.

Aber wir leben in der Welt, wie sie ist und nicht, wie wir sie gern hätten. Die Beschleunigung des Lebens ist eine Tatsache, langsam war vorgestern. Es hat ja auch seine Vorteile. Ich möchte sie nicht missen. Aber wo bleibt die Seelenzeit? Die Zufriedenheit am Ende des Tages? Der Wert des Tages, wenn jeder Tag nicht ausreicht?

 

 

 

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