Trauern bedeutet zum neuen Selbst zu finden
Trauer Lektion Nr 2
Wer sind wir Eltern ohne unser Kind?
Stirbt ein geliebter Mensch wird dadurch eine gelebte und geliebte Beziehung beendet. Angehörige geraten in eine Identitätskrise. Plötzlich endet ein Austausch, der sonst inniger physischer und psychischer Art gewesen ist. Stirbt ein Kind kann der Austausch mit dem Kind, aber auch mit dem sozialen Umfeld, das man bislang durch und für das Kind gepflegt hat, enden. Muss es aber nicht. Fest steht aber, dass Trauernde sich im Wandel befinden. Sie müssen ihr Innerstes, ihre Identität neu definieren.
Zu sich selbst finden – eine der größten Herausforderungen auf dem Trauerweg. Eine hilfreiche Metapher für Betroffene wie auch Begleitende stammt aus dem Buch „Vier minus drei“ von Barbara Pachl-Eberhardt. Sie spricht von einem Kreis gelegt aus Steinen. Wird ein Stein abrupt aus dem Kreis genommen, so muss man alle Steine neu sortieren, hochnehmen, prüfen, neu hinlegen, um die Lücke zu schließen. Dabei wird der herausgenommene Stein nicht weggelegt, sondern in die Mitte des neuen Kreises gelegt. Eng umschlossen, für alle anderen Steine sichtbar und im Zentrum des neuen Seins. Das Hochnehmen der Steine, das Prüfen und erneute Hinlegen nimmt Zeit in Anspruch. Vielleicht ist der Kreis anschließend auch kleiner, weil manch andere Steine aussortiert wurden oder auch größer, weil neue hinzukamen.
Die Steine können für ganz Vieles stehen: Freunde & Familienmitglieder, aber auch eigene Vorstellungen, Prioritäten, Wünsche, Träume. Was nun mit meiner Rolle als Mutter? Was nun mit der gemeinsamen Zukunft? Was nun mit all der Liebe für das Kind, die in Taten & Dinge umgesetzt, gelebt werden will? Was nun mit den geknüpften sozialen Banden durch und für ihn? Was nun mit der perfekten Familie? Was nun mit meinem Mann, der ihn so unfassbar innig liebt? Was nun mit seiner Schwester, die in zwei Wochen geboren werden würde? Was nun mit Freundschaften, die sich plötzlich verkrampft anfühlen, die aber eigentlich gehalten werden wollen? Was nun ….?
Hatten wir schon vorher schwere Schlachten geschlagen, schwere Erkrankungen im Familienkreis bekämpft, das Leben in unterschiedlichen Ländern und Kulturen gemeistert, den Krebs als Paar gemeinsam bezwungen, die Kinderwunschbehandlung erfolgreich zweimal in Angriff genommen, so standen wir vor den Ruinen dessen, was wir glaubten sei eine Entschuldigung für all die Schwere, die uns das Leben schon aufgebürdet hatte. Wir mussten einsehen, dass es kein Gleichgewicht zwischen Gut & Schlecht im Leben gibt, sondern, dass wir das Gute im Hier und Jetzt erkennen und wertschätzen müssen. Und genau mit dieser Einsicht begann ich meine Steine wieder zu einem Kreis zu legen - zu meinem neuen Selbst. Was und wer tut mir gut?
Viele verwaiste Eltern verlieren einander bei diesem Prozess, weil ihr Innerstes so schwer erschüttert ist, sie mit sich selbst so hadern und kämpfen, ihre Trauer nicht gemeinsam gelebt werden kann oder ihre Beziehung ganz generell schon ein schlechtes Fundament besaß. Für meinen Mann und mich stand nie zur Diskussion, dass wir den Weg nicht gemeinsam gehen würden. Für uns stand von Anfang an die Aussage im Vordergrund: nur durch uns lebt er weiter. Nur wir können sein Andenken wahren. Durch uns ist er.
Als Paar muss man begreifen, dass man als Einheit existiert, aber jeder unterschiedlichen Raum für seine Trauer, für seine eigene Veränderung braucht und, dass man willig sein muss, den anderen in seiner Trauer so zu nehmen, wie er nun ist. Vielleicht ist der eine wütender, harscher und zeitweise weniger sensibel während der andere sensibler, verschlossener, introvertierter wird. Es kann Konflikte geben, die es vorher nicht gab. Aber am Ende des Tages sollte eine gemeinsame Erkenntnis stehen: es sind die Umstände, die uns gerade fordern, es sind nicht wir als solches. Den Glauben an die gemeinsame Basis, das Vertrauen in die Liebe und die Bereitschaft zu Kompromissen und Gesprächen darf man nie verlieren - dann schafft man als Paar den Wandlungsprozess, jeden Wandlungsprozess.
Ich stellte fest, dass Vieles sich für mich mit dem Tod unseres Sohnes verschoben hat. Teilweise waren es erste Reaktionen, die sich mit der Zeit wieder legten: z.B. das Nicht-Hören können von Musik, von Nachrichten des Zeitgeschehens (im TV). Ich fand alles nichtig - nahezu verstörend. Auch regte es mich zunächst auf, wenn Menschen sich mit für mich gefühlten Nichtigkeiten, wie Kleidung & anderem beschäftigten, was ich zwar auch immer gerne tat, aber bereits vor seinem Tod nicht in dem Umfang tat und bis heute nicht wieder in damals gewohnter Art und Weise tue. Auf der anderen Seite stellte ich auch im Laufe der Zeit fest, dass eine Rückkehr zu gewissen früheren Verhaltensweisen ok ist - sie eben Teil meiner Selbst sind und sich selbst etwas Gutes tun ist in der Trauer ganz wichtig. Also fing ich doch wieder an mir schöne Dinge zu kaufen, aber z.B. mit Bezug zu ihm. So kommt es vor, dass sich im Kleiderschrank meiner Tochter und mir nun Einiges mit Stern- oder Regenbogenprint wieder findet. Auch meine Schuhe habe ich mit dem Namen von meinen Kindern bedrucken lassen. Waren wir erst drei Wochen in der neuen Wohnung als er starb, stand vieles noch leer. Also begann ich nach einer Zeit mit der Einrichtung und bedachte auch hier jedes Mal ein Detail für ihn. Es machte mir irgendwie das Einkaufen erträglicher.
Darüber hinaus verschoben sich Prioritäten, eingeimpfte Verhaltensweisen, mein Wertgefüge, meine religiösen Ansichten, meine Art Dinge noch direkter anzusprechen, meine Toleranzschwelle, mein Mitgefühl und mein Interesse an Themen, die mir vorher sehr wichtig waren. Zeitweise merkte ich, dass andere Menschen mir ungewollt ein beklemmendes Gefühl gaben oder ich merkte, dass ich viel Zeit für mich brauchte. Im Nacken saß die Angst, dass dadurch Freundschaften verloren gehen könnten. Aber ich kommunizierte offen - bat um Zeit und Raum für mich, meine Gedanken. Jeder hat dies respektiert - niemand war mir böse. Dieser Rückhalt half. Oberflächliche Themen hielt ich zu Beginn nicht aus. Inzwischen habe ich gelernt, dass sie auch ab und an Ablenkung geben können. Aber meist kann ich sie erst ertragen, wenn zuvor ein ernsthaftes Gespräch sattgefunden hat. Auch habe ich gelernt direkt zu sagen: Du, ich kann da jetzt nicht drüber sprechen, weil…. So hatten beide Seiten die Möglichkeit sich einzustellen. Viele taten dies, andere taten sich schwer und mit manchen klappt es einfach nicht mehr. Ohne einander böse zu sein.
Viele Steine mussten also gänzlich neu erfahren werden. Es half diese Gefühle zu besprechen, mit Freunden oder meinem Mann. Ich lernte mich durch diese Gespräche neu kennen, begriff meine Identität neu zu formen und bin immer noch dabei sie zu formen, meine Gefühle zu artikulieren und Strategien zu entwickeln mit ihnen umzugehen. Ich lernte, dass meine Rolle als seine Mutter weiterhin zentral sein wird in unserem Familienleben. Anders als früher in der Trauerbegleitung gelehrt, muss ich sie nicht ablegen, loslassen. Anders als manche glauben mögen, sehe ich mich weiterhin als Mutter, die ihr Kind weiterhin aktiv ins Leben mit einbezieht. Habe ich früher Essen für ihn gekocht, bastle ich heute meine Kerzen täglich für ihn. Habe ich ihn früher zur Kita gebracht, so fahre ich heute täglich zum Friedhof oder gehe in die Kirche eine Kerze aufstellen, habe ich mir früher Gedanken über Planungen für ihn gemacht, denke ich heute darüber nach, wie ich sein Andenken wahren kann, was ich ihm aufs Grab stellen kann, mit welchem Spielzeug er nun spielen würde, wenn seine Geschwister oder er Geburtstag haben, wenn ich einkaufen gehe, kaufe ich die Waffel mit, die er so gerne gegessen hat. Ja – er ist weiterhin mein Kind und weiterhin in meinem Alltag existent. Ich weiß - das klingt jetzt schon beinahe plakativ. Vielleicht ist es das auch. Er ist da für uns!
Aktiv Trauern nenne ich diesen, meinen, Wandlungsprozess. Ich habe versucht mir neue Handlungen zu definieren mit denen ich mich als seine Mutter aktiv fühlen kann. Habe den Kontakt zu seinen Freunden aktiv verfolgt und gewahrt mit der Neugierde zu sehen, wie sich die Kinder entwickeln, um zu verfolgen und zu spiegeln, welche Interessen er heute wohl hätte und vor allem, weil sie mir auch einfach wichtig waren. Begleitet hat mich der Gedanke, dass es in seinem Interesse wäre. Und es ist doch das mindeste was ich tun kann, sein Leben zu ehren indem ich versuche für ihn zu handeln. Auf diese Weise kann ich auch seinen Kreis für ihn und auch mich halten. Ich habe die Beziehungen nicht abrupt enden lassen, sondern sich haben sich gewandelt, entwickelt - gemeinsam. Und auf diese Weise haben sich Vergangenheit, Gegenwart & Zukunft entwickelt. Mit ihm als Anker.
Schmerzlich ist manches Mal die Tatsache, dass nicht jeder und immer diesen Raum, den er zeitlich und auch physisch in meinem Alltag einnimmt, wahrnehmen kann. So schmerzt das Erleben, dass meine eigene Identität sich manches Mal anders anfühlt als die von außen wahrgenommene. Nach nur 18 Monaten, die seit seinem Tod vergangen sind, reden viele davon, dass ich ja bald zwei Kinder habe, um die ich mich kümmern müsse und das sei ja so anstrengend. Es werden aber immer drei Kinder sein. Und auch die Trauer um ihn ist ein Teil unserer Identität geworden. Sie endet nicht und so endet auch der Wandlungsprozess nicht, die immer fortlaufende innere Auseinandersetzung mit seinem Verlust, seinem Fehlen, dem Begreifen. Sie wird immer Bestandteil sein mit all ihren Facetten. Sie wird immer Zeit einnehmen – aber das ist gut so, denn alles andere würde ihm nicht gerecht werden.
Er bleibt für viele unsichtbar, obwohl ich daran arbeite ihn sichtbar zu halten. Und so werden es niemals zwei Kinder sein, sondern immer drei Kinder, mit denen wir leben und für die wir uns aufopfern werden. Und für uns ist das der richtige Trauerweg. Er bleibt zentraler Teil unseres neuen Selbst. Er ist der Ausgangspunkt und alles andere hat sich ihm neu zugeordnet.
Und das ist mein persönliches Fazit in der Trauer auf dem Weg zum eigenen Selbst: auf sich hören, sich Gutes tun und das Leben im Sinne des Verstorbenen gestalten.