Das zweite Trauerjahr - Was hat sich verändert, was ist geblieben?
Viel habe ich nachgedacht...was ist in diesem zweiten Trauerjahr anders? Was ist geblieben?
Besser ist das Aushalten geworden. Des Schmerzes, des Lebens allgemein. Auch Freude kann ich wieder empfinden. Teilnehmen am Leben anderer.
Wobei letzteres nach wie vor eingeschränkt. Wirklich mit dem Herzen teilnehmen kann ich nur bei den wenigen Menschen, die uns immer begleitet haben.
Mit Begleiten meine ich, die zuhörten als Zuhören wichtig war, die fragten als Fragen wichtig waren, die ihre Belange zurückstellten bis ich dafür wieder ein offenes Ohr haben konnte. Und die nie aufgehört haben uns zu begleiten. Die weiterhin ein Gespür haben für all dies und es auch weiterhin tun. Die nie das Vertrauen in mich verloren haben. Die immer direkt mit mir geredet haben.
Ich habe manchen Kontakt aufgegeben. Ich habe akzeptiert, dass ich nicht jeden Menschen - so nah er mir auch vorher war - mit auf den Weg nehmen kann. Nicht jeder mit lauten Emotionen umgehen kann. Mit den unterschiedlichen Tonfällen umgehen kann. Stolz und Unsicherheit der anderen sind der Trennungsgrund. Es ist besser wie es ist. Platz für Enttäuschungen habe ich nicht (mehr). Sie fehlen nicht (mehr).
Was mich immer noch wütend macht? Ignoranz, Arroganz und fehlendes Reflektionsvermögen. Ich bin immer wieder überrascht, wie wenig informiert Menschen sind was das Thema Kindestod angeht. Oder speziell- den Tod unseres Sohnes. Ich hatte angenommen, dass Menschen viel drüber sprechen würden - vor allem vor dem medizinischen Hintergrund: lasst eure Kinder untersuchen, ob sie eine MILZ haben!
Aber Menschen wählen die Ignoranz. Ich glaube es ist Selbstschutz, der ignorant macht. Besonders wenn es um Kindstod geht. Der Glauben „wenn ich alles richtig mache, passiert mir nichts.“ Trugschluss.
Ich brauche immer noch Begleitung auf meinem Lebensweg. Die Welt „da draußen“ hält immer noch Schmerzen für mich bereit. Trigger - sie sind noch da. Mittlerweile kenne ich sie, versuche sie zu meiden oder Kann sie aushalten. Aber immer noch rauben sie mir Kraft.
Immer noch merke ich, dass ich verändert bin und mich weiter verändere. Die Trauer lehrte mich aus Selbstschutz egoistisch zu werden. Eine Mauer aufzubauen. Ich habe das Glück liebe Menschen an meiner Seite zu haben, die diese Mauer kennen und akzeptieren. Wertfrei. Neutral. Und diese kann ich auch immer wieder durch das Tor zu mir herein lassen.
Und das Codewort für dieses Tor heißt Richard. Manche haben nicht aufgehört sich zu fragen, wie es uns wohl ergeht. Sie haben nicht aufgehört sich selbst zu fragen, auch wenn sie den Tod verarbeitet haben. Sie sind bei uns und verlangen nicht, dass wir auch schon wieder voll und ganz bei ihnen sind.
Ironischerweise sind es genau diese Lieben, nichts fordernden Seelen, die es mir ermöglichen auch wieder Interesse an ihren Themen zu entwickeln. Und die niemals aufhörten zu fragen. Mindestens ein Wort zu unseren Gefühlen ansprechen - ob im Telefonat oder in einer Textmessage.
Insgesamt habe ich gelernt auf meine Gefühle zu hören. Nicht danach zu gehen, „was man tut“, „wie man sich zu verhalten hat“ Und meine Gefühle leiten mich gut. Für meine Familie und für mich.
Ich empfinde in diesem Jahr große Dankbarkeit. Darüber, dass ich unseren Sohn kennenlernen durfte. Er unser Leben auf ewig bereichert hat. Und zu wissen, wer bedingungslos für mich da ist und wer eben nicht.
Ich bin immer noch am Kämpfen. Tränenlos. Oft mit einem Lächeln. Aber das Kämpfen hört nicht auf. Es bleibt. Nur die Ausdauer wird besser.
Ich bin im Geiste jede Minute gleichzeitig bei unseren drei Kindern. Und der Tag ist voll mit schönen Erinnerungen, die mich mal zum Lachen und mal zum Weinen bringen. Es bleibt ein auf und ab. Und das ist gut so. Auch Tränen sind gut.
Ich danke meinem wunderbaren Mann, meinen verständnisvollen Freunden und Freundinnen, meiner Schwester und auch meiner Mutter für Ihre Bereitschaft verstehen zu wollen, hören zu wollen, mitfühlen zu wollen. Ich weiß, es kostet auch sie alle unendlich Kraft.
Im Leben haben wir immer die Wahl.
Die Wahl liegen zu bleiben oder aufzustehen.
Die Wahl hinzuschauen oder wegzusehen.
Die Wahl leise zu sein oder unseren Belangen eine Stimme zu geben.
Die Wahl uns zu öffnen oder zu verschließen.
Die Wahl das Gleichgewicht zu suchen oder in Schwere zu vergehen.
Die Wahl das Glas halb leer oder halb voll zu sehen.
Wir haben die Wahl. Wir haben die Verantwortung.
Es ist nicht leicht anders zu sein. Zu akzeptieren, dass man nicht mehr Teil der heilen Welt ist. Aber ich beneide die heile Welt nicht mehr. Ich beneide nicht die Menschen, die Ignoranz statt Aufklärung wählen.
Meine Wahl. Mein Leben.
Das ist meine wichtigste Lektion aus diesem Jahr.